Sie gilt als die geheimnisvollste und sagenumwobenste Figur der Menschheitsgeschichte. Keiner anderen wurde soviel Schuld und negative Eigenschaften angehängt; keine andere Frauengestalt ist so sehr in ihrer Bedeutung mißbraucht und mißgedeutet worden wie sie.
Dies hat natürlich seinen Grund. Die Geschichte un- serer Zivilisation weist lichte und dunkle Zeitalter auf, und zudem viele Lücken in der nicht immer wahr- heitsgetreuen Überlieferung. Auch heute gibt es noch weiße Flecken in der Vergangenheit. Wie unsere Frühgeschichte wirklich abgelaufen sein mag, liegt deshalb weitgehend im Dunkeln. Wer sich der Ge- schichte immer gern angenommen hat, sind die Reli- gionen – fast alle mit dem Anspruch auf alleinige Gültigkeit, worin sie sich zumindest in diesem Punkt einig sind. Doch jede von ihnen hat auch versucht, den Verlauf der Geschichte in ihrem Sinne zu beein- flussen, und dabei spielte das Machtverhältnis zwischen Männern und Frauen eine große Rolle. Die Religionen haben heute noch einen großen Einfluß auf die Gestaltung unserer Beziehungen, und auch wenn unser Verstand dies verneint – unbewußt laufen ständig die alten Muster ab. So haben wir heute noch mit immer wiederkehrenden Beziehungsproblemen zu tun, in denen Mann und Frau sich bekämpfen, anstatt sich zu lieben. Und oftmals dient uns der Partner als Projektionsfläche für etwas, was wir bei uns selbst nicht sehen wollen.
Wenn wir wirklich erfüllte Beziehungen erfahren wollen, müssen wir ernsthaft nach den Ursachen für dieses Jahrtausende alte Dilemma suchen. Also gehen wir weit in die Vergan- genheit zurück ...
Das Erbe des Matriarchats
Bis vor etwa 3000 v. Chr. wurde die allgemein übliche Lebensform vom Matriarchat geprägt. Frauen hatten die Rolle des Familienvorstandes, sie wurden verehrt, weil sie Leben spen- deten. Zeugungsvorgang, Menstruationszyklen und Schwangerschaft wurden als göttliches Mysterium gesehen und in vielfältigen Fruchtbarkeitsriten gefeiert. Die Frauen wählten selbst, wer Vater für ihre Kinder sein sollte, völlig frei und unabhängig. Es gab eine weibliche Erblinie, die Männer schützten Frauen und Kinder in der Gemeinschaft, und beide Ge- schlechter verehrten die Natur und die Erde als Große Göttin. Gegen Ende dieser Zeit ge- schah es, daß die Frauen - wir wissen nicht, warum - zunehmend ihre Macht mißbrauchten. Die schlimmsten Auswüchse waren die Opferriten, in denen Männer ihr Leben lassen muß- ten, oder auch kastriert wurden, um die Große Göttin zu besänftigen.
Dies hinterließ tiefe Verletzungen, Groll und Haß bei der männlichen Spezies. Sie wehrten sich, wollten mehr zu sagen haben und selbst eine Erblinie gründen. Um sich aber vor weiteren Übergriffen durch die Frauen zu schützen, mußten sie sich ein System überlegen, mit dem die Frauen beherrscht werden konnten. Gleichgestellte Beziehungen waren schon damals nicht mehr möglich, und die gesellschaftliche Ordnung wandelte sich langsam aber sicher in ein Patriarchat, das bis heute andauert. Die Unterdrückung der Frau ist ein ge- sellschaftliches Thema, das unbedingt aus diesem Hintergrund heraus betrachtet werden muß.
Dieser Machtmißbrauch sitzt heute noch als tiefes Schuldgefühl im kollektiven weiblichen Unbewußten. Und es war mit Sicherheit dieses Schuldgefühl daran beteiligt, weshalb die Frauen sich so demütigen ließen, es unbewußt als gerechte Strafe empfanden. Den Män- nern kann es nicht wirklich gut dabei gegangen sein; denn sie handelten aus Angst vor er- neuter Kastration - wie sollten unter diesen Vorraussetzungen gesunde Beziehungen ent- stehen?
Die Vertreibung von Lilith
Jede Religion enthält einen Teil der Wahrheit. Wenn wir wissen wollen, wie die Geschichte im Paradies weiter ging, sollten wir uns mit den hebräischen Schriften beschäftigen. Eines der drei heiligen Bücher, der Sohar, erzählt Erstaunliches über eine Dame namens Lilith. Sie war die erste Frau Adams und von Gott aus dem gleichen Material und gleichwertig er- schaffen. Ebenso seltsam ist, daß in den deutschen Übersetzungen der Bibel kein Wort über sie verloren wird. Lilith steht für die selbstbewußte, starke eigenständige Frau, die sie an der Seite Adams gewesen ist.
Die ältesten Hinweise auf Lilith finden wir in der sumerischen Kultur, und es gibt nur ein einziges wirklich aussagekräftiges Bild von ihr, ein Terrakottarelief aus dem 2. Jahrtausend v. Chr. Auf Anhieb wird klar, daß wir es mit einer anerkannten Göttin zu tun haben, denn auf ihrem Kopf trägt sie eine gehörnte Tiara, und derlei Kronen waren in der sumerisch-akka- dischen Ikonographie allein Gottheiten vorbehalten.
Terracotta-Relief ca. 4000 Jahre alt |
Lilith steht auf dem Rücken von Löwen, auch dies ist ein machtvolles Symbol großer Göt- tinnen. Die beiden großen Eulen, die Liliths Löwenthron einrahmen, gelten als Symbole von Weisheit und Wissen. Ihre Fähigkeit, das Dunkel mit Erkenntnis zu durchdringen, gibt die Hoffnung, unsere Ängste und Schatten ei- nes Tages erlösen zu können. Lilith trägt auch selber Flügel, und diese gehören ebenso zu den Attributen bedeutender Göttinnen. Keine große Göttin, die nicht 'fliegen' könnte, wobei ihre Fähigkeit zu fliegen durchweg gleichge- setzt wird mit ihrem Vermögen, die Grenzen von Raum und Zeit zu überschreiten. Lilith er- scheint nackt, mit einem wohlgeformten Frau- enkörper, der überhaupt nicht furchteinflößend wirkt. Nacktheit ist auch ein Sinnbild von un- verfälschter Reinheit und Echtheit. Wer nackt ist, hat nichts zu verbergen! Auch Liliths Ge- sicht ist keineswegs das einer erbarmungs- losen Furie, eher ist es von heiterer Entschlossenheit. Doch ja, ihre Füße haben Vogelkrallen - ihr Standort ist also eher der Himmel als die Erde - wehrhaft und fluchtbereit, wenn es sein muß.
Erschien Lilith im alten Sumer noch als eigenständige Göttin, so wird sie im hebräischen Sohar als männerverführend und kindermordend mit dem Teufel im Bunde beschrieben. In der Bibel wird sie nur kurz bei Jesaja 34 und Hiob 18 auf die niederträchtigste Art erwähnt, und zwar nur in der Jerusalemer Ausgabe. Interessant ist nämlich, daß Lilith seit der Re- formationszeit aus den christlichen Bibelausgaben verschwindet. So findet man in der Lu- therbibel das Wort Lilith durch Kobold ersetzt. Es ist offensichtlich, daß die christliche Kirche nicht daran interessiert ist – und zu keiner Zeit war – Liliths Eigenschaften zu pflegen, ge- schweige denn zu preisen.
Die bekannteste Geschichte aus dem Sohar ist wohl die, daß Lilith sich eines Tages wei- gerte, 'unten zu liegen'. Daraufhin beschwerte sich Adam bei Gott, welcher Lilith angeblich zur Strafe aus dem Paradies verwies. Eine sehr unglaubhafte Version. Im Sohar wird auch erzählt, daß Lilith in ihrer Not den geheimen Namen Gottes rief, als Adam sie verstieß und der Verlust des Paradieses drohte. Daß Lilith als einem geflügelten Wesen der Sinn nach den Höhen der spirituellen Welt stand, schildert bereits der Text aus Ben Siras Alphabeth. Und wie wäre es ihr möglich gewesen, den Namen Gottes zu kennen, wenn sie nicht in innigster Verbindung zu ihm gestanden hätte?
Im Namen drückt sich das Wesen einer Persönlichkeit aus. Beim Namen zu nennen, heißt die Wahrhaftigkeit zu wünschen, die alles Böse eliminiert (Rumpelstilzchen). Die Anrufung eines Namens holt die Energie des Trägers herbei, wie auch in Lilith's Gebet zu Gott. So stellt Lilith in der Schöpfungsgeschichte letztlich einen Anspruch auf Gott-Ebenbürtigkeit; ein bedrohlicher Angriff auf die Allmacht des sich neu etablierenden Vatergottes.
Die weibliche Spaltung
Weiter ist im Sohar zu lesen, daß 'der Herr sie in die Tiefen des Meeres warf und gab ihr Macht über alle Kinder der Menschensöhne, die der Bestrafung für die Sünden ihrer Väter unterliegen.' Mit anderen Worten: Gott der Herr und die Menschensöhne agieren, Lilith und die Frauen dürfen es ausbaden und werden noch für alles verantwortlich gemacht. Daß Lilith ins Meer geworfen wurde, macht ihre Verdrängung deutlich. An anderer Stelle wird zitiert: 'das Wasser ernährt Lilith'. Also kommen wir an ihre Eigenschaften heran, sobald die Ge- fühle fließen …
Die Kunde von Liliths 'zerstörerischer' Verführungskraft hallt durch die Jahrtausende und scheint Männerphantasien zu beflügeln. Dem Sohar zufolge beschloß Adam nach dem Sündenfall zu sühnen, indem er 130 Jahre enthaltsam lebte. Doch ausgerechnet in dieser Zeit, 'als er allein schlief und träumte, besuchte ihn Lilith und wußte ihr Verlangen zu stillen, indem sie ihn bestieg und dadurch seine nächtlichen Ergüsse hervorrief'.
Es wird schließlich so schlimm, daß der Sohar Liliths Macht bei unterschiedslos allen sexu- ellen Begegnungen zwischen Mann und Frau wittert, selbst noch beim vorgeschriebenen ehelichen Akt. Damit soll wohl angedeutet werden, daß die menschliche Sexualität in den Grenzbezirken des Bösen, Chaotischen und Gesetzes-auflösenden anzusiedeln ist, weshalb schärfste Vorsichtsmaßnahmen vonnöten sind, die dazu gedacht sind, noch den letzten Funken Lust und natürliche Liebe aus den Schlafzimmern zu verbannen.
Den Keil, den die christliche Tradition zwischen Eva, die 'Sünderin und Verführerin' und Maria, die 'Reine und Unbefleckte' treiben konnte, mußte das Judentum anderswo ansetzen. Hier hießen die beiden Gegensätze nicht Eva und Maria, sondern Lilith und Eva, wobei erstere das aufmüpfige und verderbenbringende Weibliche und letztere das angepaßte und dem Manne dienliche Werkzeug repräsentiert.
- „Das zweite Weib Adams – Eva – schuf Gott aus der Rippe. Dabei sprach Er: Ich werde sie nicht aus dem Kopf des Mannes machen, sonst wird sie ihren Kopf in hochmütigem Stolz tragen; und nicht aus dem Auge, sonst wird sie lüsterne Blicke bekommen; und nicht aus dem Ohr, sonst wird sie überheblich; und nicht aus dem Mund, sonst wird sie eine Schwätzerin; und nicht aus dem Herzen, sonst wird sie zu Neid neigen; und nicht aus der Hand, sonst mischt sie sich in fremde Angelegenheiten; und nicht aus dem Fuß, sonst wird sie eine Herumtreiberin.“
Solche – ernstgemeinten – Worte aus dem Sohar können nur aus dem Unvermögen ent- stehen, die eigenen Schatten zu betrachten. Die männlich-orthodoxe Welt hat hier ihre eige- ne neurotische Verformung zur Norm erhoben, motiviert von tiefsitzenden Ängsten, die Kon- trolle über das Weibliche zu verlieren.
- „Aus der Rippe, die dem Auge des Menschen entzogen und stets unter der Hülle des Kleides verborgen ist, aus ihr schuf Gott das Weib. Denn die Zierde des Weibes ist die stille Zurückgezogenheit, die sittsame Beschränkung auf den häuslichen Kreis mit seinen Pflichten und seinem lauteren Glück.“
Wie kleinlich, wie schamhaft, wie unkreativ, libido-unterdrückend und phantasielos soll Gott eigentlich sein?! Späteren Aussagen des Sohars zufolge sind die jüdischen Patriarchen aller- dings nicht fähig zu verhindern, daß selbst die von ihnen als rein und keusch geplante Eva Züge von Lilith erhält:
- „Und zu jedem Glied des Körpers sprach Gott, als er es machte: 'Sei keusch! Sei keusch!' Und dennoch, trotz all dieser übergroßen Vorsicht, hat die Frau all jene Fehler, die Gott zu vermeiden suchte.“ *
'Sündenfall' |
Hinter solchen unglaublichen Äußerungen werden Egoismus, Verantwortungslosigkeit und Dekadenz sichtbar. Was an Eva rebellisch ist, geht auf Liliths Einflüsterungen zurück, womit Lilith nun auch für die Frau zur Versucherin und Verführerin wird. Lilith ist es, die Eva dazu überredet, von den Früchten der Erkenntnis zu kosten. Dabei werden Lilith und die Schlange eins: im Sohar-Mythos heißt es, Li- lith sei die Schlange und die Hure, die Eva an- stiftete, Adam zum Beilager zu verführen, während sie in der Zeit ihrer menstruellen 'Unreinheit' war.
Dieses Bild hat dann Schule gemacht: Lilith, die Verführerin, durchzieht schließlich auch die christ- liche Ikonographie, vor allem des 15. und 16. Jahr- hunderts, der Kulminationszeit jener Frauenpogro- me, die man noch immer verharmlosend Hexen- verfolgungen nennt. Besonderer Beliebtheit erfreu- ten sich Darstellungen, in denen Lilith und Eva als Sockel dienten, über dem sich als triumphierendes Symbol der Reinheit die Jungfrau Maria mit dem Jesusknaben erhob.
Dieses Bild, wie auch die Spaltung in Eva, Maria und Lilith entzweit die Frau mit sich selbst. Der Bilderrahmen ist jedoch so gesetzt, daß er zugleich den Mann – Adam wie auch seinen Schöpfergott – wirksam und für alle Zeiten von jeglicher Verantwortung für das Böse in der Welt freisprechen soll. Der Frau wird damit, von seiten des Mannes, das kulturelle Urmiß- trauen ausgesprochen, was einen fortwährenden Krieg der Geschlechter in Gang hält. Dabei hatte Adam sich doch als androgyne Gestalt entworfen. Lilith und Eva sind ausdrücklich als in einem männlichen Subjekt enthalten vorgestellt worden; damit spiegeln diese Frauenbilder in erster Linie die männliche Anima, um die es schlecht bestellt scheint, so zerrissen und ge- spalten, wie sie sich selbst und symbolisch darstellt.
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* Zitate aus: Lilith, die erste Frau Adams, Vera Zingsem
© Überarbeitete Auszüge aus meinem Buch "Was würde die Liebe jetzt tun?", Kapitel 12
Teil 2: Inanna, Lilith und der Huluppu-Baum
Teil 3: Die Jupiter-Lilith Konjunktion