Donnerstag, 3. September 2015

Der Schmerz der Kühe

Johannes Halsmayer

Die Kühe. Und die Hörner; vielmehr: die Kühe ohne Hörner. Es tut mir jedes Mal weh, wenn ich Kühe ohne Hörner sehe. Es gibt ja schon Schulbücher mit Bildern von Kühen ohne Hörnern: So sehen Kühe eben aus. Pragmatisch, realistisch – und eine dreiste, unverschämte Lüge.


Im Großen und Ganzen habe ich „verstanden“, dass das Enthornen der Kühe unter ande- rem ein Begleitumstand der so genannten „artgerechten“ Tierhaltung ist. Auch das macht mich traurig, und wütend: wegen des Zynismus und der Perversion, die ich in dieser „Argu- mentation“ erlebe. Nach den Emotionen bleibt jedenfalls ein tiefes Mitgefühl – für die be- troffenen Tiere, und für die betroffenen Menschen: die diesen Widersinn weder bemerken noch fühlen, weder empfinden wollen noch dürfen – weil solch ein Erleben mit den alltäg- lichen Erfordernissen ihres Berufes bzw. Erwerbes einfach nicht zu vereinbaren wäre.


So ist es auch wenig verwunderlich, was über dieses Thema gemeinhin zu hören ist. Dass die Kühe es ja ohnehin nicht spüren, wenn man ihnen die Hörner „entfernt“ (ich will gar nicht genau wissen, wie); und dass es so einfach „besser“ ist. Weil sie (einander) dann nicht stoßen können, mit den Hörnern eben. Und jüngst sagte mir ein – wirklich ganz lieber – Bio-Bauer, dass er auch keinen Wesens-Unterschied wahrnehmen würde: zwischen den Kühen mit und solchen ohne Hörnern.

Ich habe zwei Jahre auf Bauernhöfen gearbeitet, wo es noch den guten alten Anbinde-Stall gab. Jede Kuh hatte im Stall ihren angestammten Platz, den sie kannte, der ihr vertraut war, den sie auch ganz selbstverständlich aufsuchte, wenn sie abends von der Weide wie- derum herein kam zum Melken. Dann streckten alle den Kopf durchs Gatter nach vorne, und ein Riegel wurde umgelegt, sodass der Melker einigermaßen Ruhe hatte bei der Ar- beit, während die Kühe am Fressen waren. Wenn alle fertig waren, wurde die Verriegelung wieder geöffnet – alle zogen den Kopf zurück, und legten sich, je nach Bedürfnis früher oder später, zur Ruhe. Bis dahin konnte dieser Platz relativ leicht sauber gehalten und mit frischer Einstreu versorgt werden, sodass die Kühe sauber zu liegen kamen, und selbst sauber blieben. Und welch ein Friede, wenn man später noch einmal in den bereits dun- klen Stall kam! Das hing natürlich sehr von der Qualität ab, in welcher der Stall überhaupt geführt wurde; gewiss konnte auch in einem Anbinde-Stall Lieblosigkeit Platz greifen. Ich hatte das Glück, bei einem Bauern zu arbeiten, welcher seine Kühe nicht nur namentlich kannte, sondern auch immer wieder zärtlich streichelte, ja liebkoste.

Nun konnte man einwenden, dass die Kuh an ihrem angestammten Platz eben auch angebun- den, ja angekettet war. Zudem schien sie im An- binde-Stall verdammt zu anhaltender Bewegungs- armut, vor allem im Winter. Freilich konnte man den Kühen jederzeit entsprechend Auslauf ver- schaffen - das bedeutete allerdings zusätzlichen Aufwand.

Dann kam eben der Freilauf-Stall. Wenn nun die Kühe frei laufen dürfen, entwickeln sie in stärkerem Maße wiederum ein artgerechtes Herdenverhalten. Da geht es unter anderem um Rangordnung, und um entsprechenden Abstand vonein- ander. Dafür braucht es aber genügend Platz – einen Platz, den der „artgerechte“ Frei- laufstall allerdings in den wenigsten Fällen zu bieten hat. Dazu müsste er nämlich ziemlich groß sein (dann würden die Kühe freilich auch weniger in ihrem eigenen Mist stehen bzw. liegen müssen) – und dann wäre so ein Stall auch ziemlich teuer. Und so sind die Ställe eben meist zu klein, und die Kühe bekommen ganz artgerecht Stress, und beginnen einander ganz artgerecht mit den Hörnern zu stoßen. Und dann gibt es Verletzungen, die natürlich keiner will – also weg mit den Hörnern: So die Denkfigur, soweit sie sich mir erschlossen hat.

Nun schauen Sie aber einmal mit dem Herzen hin, mit einem offenen Herzen! Betrachten Sie eine Kuh, der man die Hörner genommen hat: ein irgendwie sinnlos, deplatziert wir- kender Höcker am oberen Ende des Kopfes, insgesamt ein etwas dümmlich-stumpfer, irgendwie entwurzelter und trauriger Ausdruck. Und daneben eine Kuh mit Hörnern – so- fern Sie das Glück haben, einer solchen überhaupt noch ansichtig zu werden: Der ganze Kopfaufbau wirkt anders, mit viel mehr Aufrichte- Kraft – und welch erhabener, würdevoller Ausdruck insgesamt, welch weisheitsvoll verinnerlichter Charakter! Warum wohl wurden die Häupter der ägyptischen Göttinen Hathor und Isis vielfach dargestellt mit Kuhhörnern – die gelegentlich auch eine Sonnenscheibe trugen? Rudolf Steiner, unter anderem Begrün- der der biologisch-dynamischen Landwirtschaftsmethode, hat die Hörner der Kuh einmal als ihre „Antennen zum Kosmos“ bezeichnet – unerlässlich auch für eine wesens- gemäße, „artgerechte“ – und damit gesunde – Verdauung und Milchbildung. Für ein fühlendes Schauen sind solche Gesichtspunkte leicht nachzuvollziehen.

Abgesehen davon, was es für das Wesen der Kuh bedeutet: Welche Milch – und welches Fleisch – haben wir dann aber zu erwarten von Tieren, die – aus zweckorientierten Grün- den – dieses wesentlichen Teiles ihrer körperlichen Existenz beraubt und erbärmlich ver- stümmelt wurden? Um nochmals nachzufühlen, was ich mit Zynismus und Perversion meine, setzen Sie hier statt „zweckorientiert“ einfach „artgerecht“.

Das „genossene“ Produkt ist jedoch nur ein Weg, auf dem wir möglicherweise Konsequen- zen unserer Handlungsweise erfahren. Die wesentlichere Frage ist wohl: Was bedeutet es für die Beziehungen unter uns Menschen, ja zu uns selbst, wenn wir uns anderen Wesen gegenüber derart fühl- und respektlos verhalten?

„Was immer den Tieren geschieht, geschieht bald auch den Menschen. 
Alle Dinge sind miteinander verbunden. 
Was die Erde befällt, befällt auch die Söhne der Erde.“

Chief Seattle

Wir können auch umgekehrt sagen: Wie wir mit uns selbst und unseren Mitmenschen um- gehen, so werden wir auch die Tiere, ja die gesamte Schöpfung behandeln. Einem wachen fühlenden Blick ins Zeitgeschehen werden sich unschwer Zusammenhänge erschließen.

Am geschilderten Beispiel mit den Kühen tritt meines Erachtens in besonders zugespitzter Weise ein Widerspruch zu Tage, der im Begriff bzw. Anspruch der – noch so gut gemeinten – „artgerechten Tier-Haltung“ liegt: denn welchem Tier wird man schon „gerecht“, wenn man es hält? Ohne all die vielen einschlägigen Bemühungen schmälern zu wollen: artge- recht reimt sich in meinen Ohren allzu leicht auf selbstgerecht, klingt nach Alibi und schlechtem Gewissen. Oft scheint dabei auch – gerade bei „Bio“– als ideeller Maßstab das Bild der nicht domestizierten Form im Hintergrund zu schweben.

Ich halte das für ebenso unnötig wie irreführend. Haustiere sind mit den entsprechenden Wildformen nur sehr bedingt vergleichbar – konsequenterweise müsste man sie als eine je eigene Art betrachten: zu der eben die Nähe zum Menschen bzw. die Abhängigkeit von ihm wesensgemäß hinzugehört. In diesem Sinne müsste allerdings als eine weitere, ent- scheidende Konsequenz in die Betrachtungen über artgerechte Tier-Haltung etwas mit einbezogen werden, was für mein Empfinden bislang meist vollkommen ausgeblendet bleibt: das Wesen des Menschen, und seine Art. Aus welchen Motiven hält ein Menschen ein Tier, was ist seine Haltung, und wie gestaltet er seine Beziehung zum Tier? Diese Frage hat neben dem allgemeinen durchaus einen sehr individuellen Aspekt – dies im Hinblick auf die heute so „beliebten“ Verordnungen, die dem Einzelnen nur noch eine Verantwortung überlassen möchten: ihnen eben nachzukommen.

Im besten Falle wird die Beziehung zum Tier getragen sein von Respekt und Mitgefühl, wenn nicht von Liebe. Und von Dankbarkeit: dass das Tier sich dem Menschen mit seiner Arbeitskraft und/oder seinen „Produkten“ zur Verfügung stellt. „Ehrfurcht vor dem Leben“ hieß es bei Albert Schweitzer. Aus einer solchen Haltung wird sich eine entsprechende Tier-Haltung ergeben. Und da mag es durchaus sein, dass sich ein liebevoll gepflegter Anbinde-Stall mit gehörnten Rindern als viel „artgerechter“ erweist als ein noch so gut gemeinter Freilaufstall – in dem die Kühe das bisschen Mehr an „Freiheit“ mit dem Verlust ihrer Hörner bezahlen müssen.

*
Die Kuh, die lacht – „La vache qui rit“ – ist der Name eines bekannten französischen Schmelzkäses. Wie viel oder wie wenig Grund sie auch sonst zum Lachen haben mag: die Kuh auf der Verpackung hat immerhin noch Hörner. Lassen Sie mich nun erzählen von einer Kuh, die weint.

Vor einiger Zeit war ich drei Tage allein unterwegs im Gebirge. Ohne in irgendeiner Weise danach gesucht zu haben, zeigte es sich, dass mir die Kuh zu einer Art Weg-Begleiterin wurde.

Am ersten Abend hatte ich mein Lager in einem kleinen Wäldchen aufgeschlagen. Bis weit in die Dämmerung hinein brüllten auf der Weide draußen die Tiere, wie ich es sonst nur kannte, wenn sie auf dem Rückweg zum Stall vor einem geschlossenen Tor warten muss- ten, wenn sie Hunger oder Durst hatten, oder wenn niemand zum Melken kam. Nach einiger Zeit ging ich nochmals nach draußen zur Herde, um nachzusehen – ohne allerdings einen Grund für das anhaltende Gebrüll zu finden: Wasser gab es genug, Gras ebenso, und zur nahe gelegenen Alm hätten sie ohne weiteres selber gehen können. Zurück blieb der Eindruck, dass die Tiere sich irgendwie vernachlässigt bzw. im Stich gelassen fühlten. Am anderen Morgen, um vier Uhr, ging es dann wiederum los.

Im Verlauf dieses – zweiten – Tages fügte es sich, dass mir zum Thema Hörner ein unmit- telbarer, eindrücklicher Vergleich vor Augen geführt wurde. Schauen – und fühlen – Sie selbst.


Dann der dritte Tag. Schon am Morgen treffe ich, oberhalb der Baumgrenze, wiederum auf eine Herde von Jungvieh und Kühen. Meiner Erfahrung nach sind die Tiere in derart exponierten Situationen nicht unbedingt zugänglich; da auch ich gerade keine Lust auf „Kontakt“ habe, will ich meinen Weg eigentlich an der Herde vorbei nehmen. Plötzlich jedoch brüllt eine von ihnen – und die ganze Herde kommt auf mich zu gerannt. Die Tiere drängen sich förmlich an mich heran, wie mit einem stummen Anliegen; möglicherweise erwarten sie auch einfach nur Salz von mir. Ich jedenfalls freue mich – freue mich über diese unverhoffte Zuwendung, über die verschiedenen Physiognomien, und über die wunderbar sauberen, augenscheinlich gesunden, wenn auch großteils enthornten Tiere.


Ein wenig später kommt es dann zur letzten, entscheidenden Begegnung. Wiederum führt mich mein Weg durch eine weitläufig im Gelände verteilte Herde. Da kommt unvermittelt, nachgerade absichtsvoll eine der Kühe auf mich zu. Ohne die „übliche“ Zurückhaltung schiebt sie mir ihr feuchtes Maul entgegen, lässt sich ein wenig kraulen. Ganz plötzlich drängt in mir ein Impuls herauf, dem ich ganz spontan Folge leiste: Stellvertretend für alle Mitglieder unser beider Rassen bitte ich die Kuh um Vergebung – für das, was ihr und ihnen da angetan wurde, und immer noch wird. Die Kuh schnaubt, ruckt mit dem Kopf auf und ab – und da sehe ich, wie dicke Tropfen aus ihren Augen springen. Kaum traue ich meinen Augen, schaue nochmals hin: Tatsächlich, die Kuh weint...

Und ich will gar nicht wissen, ob es dafür vielleicht auch irgendeine bloß physiologische Erklärung gibt. Ich halte mich an mein Gefühl: dass in diesem Augenblick wirk-lich etwas geschehen ist.