Freitag, 22. Juni 2012

Die Bedeutung des Mutter-Seins

„Weich. Rosa Licht. Wohlige Wärme, und wenn ich mich bewege, stoße ich an sanfte Gren- zen, die etwas nachgeben, aber nicht ganz. Es gibt mir Halt. Ich werde dauerhaft versorgt, die Nahrung fließt ständig.

Ich mag es wenn du dich be- wegst, das spüre ich als sanfte Massage. Es regt mich an und stimuliert mich, wie ein köst- liches Lustgefühl. Ich fühle mich eins mit dir. Am liebsten höre ich deine Stimme, die mir wun- dersame Geschichten erzählt, und wenn du über deinen Bauch streichst, dann antworte ich dir mit einem fröhlichen Tritt. Ich weiß noch nicht, daß du ein anderes Ich bist, noch gehörst du vollkommen zu mir. Wie könnte es anders sein? Ich fühle mich so sicher und geborgen. Du bist meine Nahrung und meine Lust, mein Glück und mei- ne Liebe. Nie werde ich aufhören dich zu lieben, Mutter.“

So in etwa ist unsere früheste Erfahrung, und es ist gleichsam unsere erste Bindung. Wir ge- hen diese Bindung nicht ein, sondern Mutter ist einfach da, von Anfang an. Mit ihr verspüren wir die größte Innigkeit, das vollständige Einheitsgefühl. Es erinnert uns an die Sphäre, aus der wir einst gekommen sind.

Diese Erfahrung des Einsseins scheint unglaublich wichtig zu sein für den Start ins Leben. Sie vermittelt uns die innere Sicherheit als Basis, auf die alle anderen Erfahrungen aufbauen. Wenn ein Kind geboren wird, braucht es ein ebenso sanftes Willkommen hier auf Erden. Jede Störung dieser ersten hochsensiblen Phase sollte vermieden werden. Diese sensiblen Entwicklungsphasen ziehen sich bis ins 6. Lebensjahr hinein (ausführlich in meinem Buch), und werden alle seelischen Weichen für das Menschenkind stellen.

In diesen ersten Jahren wird von der Art der Interaktion zwischen Mutter und Kind alles ab- hängen. Außer der Nahrungsversorgung braucht es viel Liebe, Nähe, Beistand und Aufmerk- samkeit, je nach Entwicklungsphase. Und es braucht vor allem das sichere Gefühl, jederzeit in Mutters Arme zurückkehren zu können. Eine in sich geheilte Mutter wird all dies bedin- gungslos tun, und dafür sorgen, daß entsprechende Voraussetzungen da sind. In der heuti- gen Gesellschaft werden jedoch solche Bedingungen regelrecht sabotiert; und das sogar von höchsten Amtsstellen.

Wir können davon ausgehen, daß ein hoher Prozentsatz der Mütter nicht in sich geheilt sind. Das hat viele Ursachen. Eine der größten ist die, daß das Mutter-Sein gesellschaftlich nicht wirklich anerkannt ist, sondern als ein alltägliches Muß so nebenher läuft. Zudem wird von Seiten der Regierung, des Bildungssystems und der Medien darauf hingearbeitet, die Mütter immer mehr zu entwerten, und sie so früh wie möglich wieder in den Arbeitsprozeß zu inte- grieren. Will eine Mutter ihr Kind die ersten wichtigen Jahre selbst begleiten, wird sie als nicht zeitgemäß abgestempelt, und von der Gesetzgebung und zB den Jobcentern auch un- ter Druck gesetzt, sodaß ihr diese Wahl fast unmöglich gemacht wird. Die laufende Geld- entwertung hat auch dafür gesorgt, daß heute die Eltern schon gezwungen sind, beide zu arbeiten, um den Lebensstandard einigermaßen zu erhalten. Und das Dümmste, was einem passieren kann, wenn man als Mutter zuhause bleiben will, sind Angriffe der Mitmenschen, daß solche Wünsche ja Nazi-like wären. Das passiert ohne Frage, und nicht zu selten.

© Gustav Klimt
Eine weitere Ursache ist die, daß viele Mütter selbst unge- heilte Mütter hatten. Wer kennt nicht die durch Alltagsstreß genervten Mütter, die, selbst verletzt, nicht genügend Kraft, Liebe und Geduld aufbringen können. Töchter identifizieren sich unbewußt mit ihrem Mutterbild, und erleben meist die Ablehnung und Entwertung ihrer Mütter, die diese selbst er- fahren haben. Söhne hingegen identifizieren sich mit dem Vater, und übernehmen oft die Haltung, die Vater gegenüber der Mutter einnahm, und wenn diese verletzend war, geben sie es unbewußt weiter.

Die schlimmsten Auswirkungen haben Erniedrigungen, sie lassen ein Kind narzißtisch werden. Wenn eine Mutter den Sohn erniedrigt, wird er sich später an der Partnerin rächen. Wenn eine Mutter alles Weibliche in ihrer Tochter bekämpft, wird sie wahrscheinlich Jahr- zehnte brauchen, um ihre Rolle als Frau zu finden. Es gibt viele Varianten und Abstufungen, die Mütter verletzt haben. Auch die Religionen haben einen beträchtlichen Anteil daran, uns über Jahrhunderte zu vermitteln, daß Frauen wertloser sind als Männer. Dahinter steckt ein Plan, die patriarchale Vorherrschaft zu garantieren. Doch, sind die Männer dadurch glückli- cher geworden? Ich meine, als Bild gesehen: sie haben sich damit selbst den Ast abgesägt, auf dem sie sitzen.

Ungeheilte Menschen gehen ungeheilte Beziehungen ein, und erleben mit großer Ziel- sicherheit ihr Kindheitsdrama von neuem. Sie erleben es solange, bis sie aufwachen und beginnen, sich ihren Schmerz anzuschauen, nicht wirklich geliebt worden zu sein. Damit kann man ein halbes Leben beschäftigt sein, bis die Muster gelöst werden und heile Bezie- hungen möglich werden. Solche langen Umwege können wir uns heute nicht mehr leisten, angesichts der eskalierenden Systeme und der Lieblosigkeit auf vielen Ebenen.

Ein Kind kann nur sicher ins Leben gehen, wenn es sorg- sam behütet und geliebt wurde. Und es braucht diese Sicherheit durch alle frühen Entwicklungsphasen, was bedeutet, daß es die Möglichkeit haben muß, zu jeder Zeit zur Mutter gehen zu können. Sie ist der alleinige Garant für die emotionale Sicherheit, das Gefühl des Einsseins zu- rückzuholen, wenn das Kind es benötigt. Natürlich gibt der Vater ebenso Sicherheit, aber es ist eine andere. Der Vater zeigt dem Kind mehr die Welt draußen, und wie das Kind den Mut findet, in die Welt zu gehen. Die Mutter aber bleibt die 'Versicherung', immer wieder emotionalen Halt zu fin- den.

So wird die Mutter zum 'Basislager', zum Zentrum der Fa- milie, durch die das Kind Vertrauen entwickelt und eine seelische Identität. Wenn das verhindert wird, durch eine zu frühe Loslösung oder Trennung, entstehen garantiert Bindungsängste. Besonders die Phase zwischen 1 und 3 Jahren ist empfindlich, und wenn ein Kind so früh den ganzen Tag in der Krippe verbringt, entwickelt es hohe Trennungsangst, denn es kann noch nicht einschätzen, ob und wann die Mutter wiederkommt. Ein Tag ist für das Kleinkind eine Ewigkeit. Wenn es so früh eine Angst vor Trennung erlebt, dann wirkt das später in den Partnerschaften nach.

Die Mutter ist die Leben-Spendende, die, die zuallererst da war. Sie kann das Einheitsgefühl zurückbringen, was für das Kind eine ungeheuer wichtige Erfahrung ist. Sie ist die sichere Höhle der Geborgenheit, die aufgesucht werden kann, wenn in der Kinderwelt ein Schreck oder Traurigkeit entsteht. Diese ursprüngliche Verbindung zwischen Mutter und Kind ist nicht ersetzbar, durch keine Erzieherin, und sei sie noch so wohlmeinend. Und solange Kinder zu früh getrennt werden, solange ihnen diese Sicherheit verwehrt wird, werden weitere Ver- letzungen zu den alten hinzukommen. Wenn das weiterhin so betrieben wird, ziehen wir im- mer mehr bindungsunfähige Menschen heran, die wiederum ihrem Kind kaum eine tragfähi- ge Bindung geben können.

© http://brigitte-jost.de
Um die Bedingungen zu ändern, muß das Mutter- Sein einen neuen und adäquaten Status erhalten. Die Mutter braucht vor allem den Schutz und die Unterstützung der Gemeinschaft, und das gilt ganz speziell für alleinerziehende Mütter, die besonders belastet sind, wenn sie nicht vom Partner gestützt werden. Mütter dürfen nicht zur Arbeit gezwungen werden. Sie brauchen eine materiell sichere Exis- tenz, um sich ihren Kindern unbelastet widmen zu können – eine Mutter mit permanenten Existenz- nöten kann das nicht. Das Modell der Großfamilie kann dazu dienen, es so weiterzuentwickeln, daß kleine Gemeinschaften entstehen von Menschen, die sich mögen. Dort kann Betreuung von vertrauten Personen geleistet werden, wenn die Mutter anderes zu tun hat. Eine Abwesenheit der Mutter für 3 std. am Tag halte ich bei einem Kleinkind ab 3 Jahren für vertretbar, aber nicht mehr.

Die Mutter braucht von uns allen eine neue Wertschätzung, damit sie heil werden und ihren Kindern das geben kann, was sie so dringend benötigen. Die Mutter ist das Zentrum der Familie und einer positiven Entwicklung. Inwieweit uns das gelingt, wird die Entwicklung der Gesellschaften zeigen. Denn die Gesellschaft ist auch deshalb gespalten und krank, weil sie ihre Liebe-spendende Basis aus den Augen verloren hat.

Das Mutter-Sein ist das heilige Zentrum, aus dem heraus sich liebende und kreative Men- schenkinder entwickeln, die natürlicherweise zum Wohl des Ganzen wirken werden. Das Ge- bären eines Kindes ist ein Schöpfungsakt, Wunder und Gnade zugleich, das höchsten Schutz von uns allen erfordert. Und deshalb ist es an der Zeit, jeder Mutter Unterstützung und Heilung zu ermöglichen, und für die nötigen Voraussetzungen zu sorgen. Ebenso wichtig ist, daß wir uns alle mit dem Mutter-Thema aussöhnen. Wir haben genug gelitten unter Lieblosigkeit und Trennungen. Denn am Ende des Tunnels erwartet uns die Göttin, strahlend im Licht, mit bedingungsloser Liebe und offenen Armen.

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