Sonntag, 9. September 2012

Über die Heilung von Beziehungen

Ein besonders wichtiges Thema sind Partnerschaften. Wir haben sicher fast alle festgestellt, daß sie große Herausforderungen bieten für diejenigen, die noch verletzte Anteile in sich ha- ben. Sie erfordern innere wie äußere Transformation, denn in der Neuen Zeit wird nur die ge- heilte Partnerschaft von Dauer sein können.

© Marc Chagall
Das ist ein umfassendes The- ma, und die Auswahl eines entsprechenden Textes nicht leicht, zumal hier nur ein kleiner Rahmen möglich ist. Der Bedarf nach Klärung und Heilung ist jedoch groß, wie ich aus vielen Gesprächen weiß. Besonders das Stolpern über Wiederholungen im Be- ziehungsmuster ist schmerz- haft und macht zu schaffen. Die Ursachen und Hintergrün- de solcher Muster habe ich in meinem Buch ausführlich be- schrieben, und die Auswirkun- gen früher Verletzungen auf Partnerschaften findet man in Kapitel 7. Für Kenner meines Bu- ches nichts Neues, doch möchte ich mit meiner Auswahl die Möglichkeit zur Auseinander- setzung mit dem Thema für alle geben. Ganz im Mittelpunkt steht dabei die Heilung von Frau und Mann, die nur über gegenseitigen Respekt und Mitgefühl möglich ist. Hier also ein Ausschnitt aus Kapitel 7: 

Liebe - das Glück der Zweisamkeit

Partnerschaft und Einsamkeit / Die Angst vor Trennung / Die Angst vor Individuation
Die Angst vor Nähe / Der rigide Charakter / Die Verantwortung für das Glück
Die eine Träne / Die erwachsene Beziehung / Die Liebe von Isis und Osiris


Bei Weiterverbreitung unbedingt angeben:
© Originaltext des Märchens aus „Die Wolfsfrau“ von Clarissa P. Estés
© nacherzählt in „Was würde die Liebe jetzt tun?“ von Christa Heidecke


Die eine Träne

Bei den Inuit gibt es das Märchen von der Skelettfrau. Es wird erzählt, daß eines Tages ein junger Fischer hinausfuhr, um Fische zu fangen. Doch an diesem Tag hatte er etwas anderes an der Angel, was sich schwer herausziehen ließ. Er war sehr erschrocken, als er sah, daß es ein weibliches Skelett war, und fuhr schnell zurück.

Er flüchtete über das Eis zu seinem Iglu, und die Skelettfrau folgte ihm klappernd nach, doch am Ein- gang seiner Höhle brach sie zusammen. Es war stockdunkel, und nach einer Weile traute er sich in ihre Nähe, wo er die bejammernswerte Gestalt mit völlig durcheinander liegenden Knochen liegen sah. „Na, na, na“ murmelte er leise vor sich hin, und machte sich daran, ihre ganzen Knochen zu ent- wirren und zu ordnen, bis alles wieder an der rich- tigen Stelle lag. Dann legte er sich erschöpft hin und schlief ein.

Und während er träumte, rann eine helle Träne über seine Wange. Dies aber sah die Skelettfrau und kroch an seine Seite und trank die eine Träne. Sie stillte ihren Durst, und dann trommelte sie mit ihren Knochenhänden auf das Herz des Mannes und sang dazu. Sie sang und trommelte die ganze Nacht mit aller Inbrunst, und während ihres Gesanges wuchsen ihr wieder Fleisch, Haut und Haare. Als sie wieder ganz war, legte sie sich zu ihm und sie lagen Herz an Herz beisammen. Es wird erzählt, daß die beiden nie wieder einen Mangel leiden mußten.
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In vielen Beziehungen mangelt es den Partnern an Mut, sich das Unschöne, Unfertige  beim anderen anzusehen. Um lieben zu können, muß man nicht nur stark sein, sondern auch wei- se. Die Weisheit entsteht im liebenden Mitgefühl füreinander, wenn man etwas Altes sterben lassen muß, damit etwas Neues entstehen kann. Eine Beziehung ist auf Dauer immer wieder von diesen zyklischen Prozessen betroffen.

Das Ego könnte sagen "ich wollte doch nur ein bißchen Spaß mit ihm/ihr haben. Warum wer- de ich plötzlich mit diesen grauenhaften Verwicklungen und Ängsten konfrontiert?"

Wir ziehen immer mehr an Land, als wir beabsichtigt haben, solange wir uns der Illusion hin- geben, daß irgendeine Romanze die tiefen Seelenbedürfnisse erfüllt und befriedigt. Am lieb- sten wäre es uns, wenn der einmal an Land gezogene Schatz keine weiteren Ansprüche stellen und uns für den Rest des Lebens die Arbeit abnehmen würde.

Doch wir wissen es besser – in einer fortgeschrittenen Liebesbeziehung wird im Laufe der Zeit alles, aber auch alles, was man zu sein glaubt, auseinander genommen, abmontiert, in- spiziert, entwirrt und schließlich, wenn man durchhält, noch einmal ordentlich durchgeknetet und dann erneuert. All unsere Ängste kommen dabei ans Licht, werden durchleuchtet und wenn wir Glück haben, mit Liebe angesehen. Wenn die Sehnsucht nach Gefühlstiefe und Wahrheit größer wird als die Arroganz des Egos, fühlen wir auch die innere Bereitschaft, die Schalen um unser Herz abfallen zu lassen, damit wir uns authentisch begegnen können.

Die geheilte 'Skelettfrau'
Die eine Träne zu trinken, war für die Skelettfrau wie ein Strom, dessen Wasser den Durst eines ganzen Lebens löscht. An diesem Punkt hat ein Liebender sich so weit geöffnet, daß sein tiefstes Mitempfinden, sein wortloses Verständnis für sich selbst und den anderen nicht mehr eingedämmt werden kann und überquillt. Nur dieses wortlose Überströmen kann den Durst der zum Skelett ab- gemagerten Ur-Natur stillen. Nur in seiner unschul- dig schutz- und arglosen Form ist ein menschlicher Liebesfischer fähig, den Durst seiner Partnerin zu löschen.

Es gibt wahrscheinlich nichts, nach dem sich eine Frau mehr sehnt, als diese Träne im Auge ihres Mannes zu sehen. Sie ist das glühend ersehnte Eingeständnis, die Wunden, die er sich selbst und anderen geschlagen hat, zu fühlen. Er weint, weil er weiß - und weil er ihre Wun- den fühlt. Das ist ein wärmeverströmendes, regenerierendes Wissen, das Heilkraft enthält.
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"Ein Liebender zieht sich angstvoll zurück und meint, 
von seinem Partner verfolgt zu werden,
während in Wahrheit jede tiefergehende Liebe das Wissen um den Tod der persönlichen und egoistischen Vorstellungen von der Liebe nach sich zieht. 
Man kann leiden und trotz alledem wissen, daß das, was da zerbricht, nicht die Realität ist;
es zerbricht nur die Hoffnung auf Erfüllung meiner Erwartungen.
Wenn ich für diese Hoffnung irgendwann wieder die Verantwortung übernehme, 
kommt dahinter ein Mensch hervor, den ich weiterhin lieben kann, 
aber mit dem ich mich auseinandersetzen muß.
Dazu gehören auch die Schattenseiten, Verletzlichkeiten, das Bedrohliche.
Wenn wir das Unschöne zurückweisen, schneiden wir uns vom Leben ab." 
   Dolores Richter


Die erwachsene Beziehung

Wenn eine Partnerschaft schon viele Anteile aus dem Neuen Bewußtsein in sich trägt, dann können die beiden Partner einander motivieren, ihre jeweilige Wunde zu heilen. Sie können darüber reden und einander den Rücken stärken, wenn es ihnen vorübergehend schwer wird. Sie können miteinander üben, Projektion und Realität auseinander zu halten. Was nicht geht, ist, daß einer des anderen Wunde heilt. Das kann jeder nur für sich selber tun. Aber der Andere kann ihn dabei liebevoll unterstützen.

Nun sind aber nicht alle Partnerschaften so. Oft hat einer mehr Angst, hinzuschauen, und der andere weniger. Dann fange der mit der geringeren Angst bitte an, für sich zu arbeiten, ohne ein großes Thema daraus zu machen. Er wird vielleicht mit gutem Beispiel voran ge- hen, und nach einer Zeit zieht der Ängstlichere nach. Oder einer befreit sich allein von alten Schmerzen und man sieht dann, was wird. Auf jeden Fall braucht man hinterher keine Mutter mehr, man ist erwachsen und heil, und den meisten Beziehungen tut das gut und verleiht ihnen viel Wachstumsimpuls. Und wenn nicht – ist man stark genug, in Frieden Lebewohl zu sagen und sich zu öffnen für einen ebenfalls erwachsenen Partner.

Der Wachstumsgewinn ist enorm, wie auch immer man es angeht. Wichtig ist nur, daß man es angeht, denn mit geduldigem Ausharren und immer neuen Verletzungen geht das Pro- blem nicht weg. Und auch nicht mit immer neuen Affären, dadurch wird das Innere Kind nicht heil, es braucht Erkenntnis und Integration in die Psyche des Erwachsenen.

Was so entsteht, ist eine Beziehung im Neuen Bewußtsein.

Diese zeichnet sich durch einige Charakteristika aus (die Liste ist erweiterungsfähig):
  • hier begegnen sich zwei Erwachsene, deren innere Kinder zumindest im Wesentlichen geheilt sind
  • keiner braucht hier des anderen emotionale Wunden zu heilen, das heißt, niemand ist bedürftig
  • beide können einigermaßen angstfrei mit dem Leben, mit sich selbst und miteinander umgehen
Der Andere wird erkannt als eigenständiger Mensch, der kein Wunschbild ist, sondern Ecken und Kanten hat – wie man selbst. Man kann dies achten und es wird nicht mehr stören.

Beide übernehmen Verantwortung für sich selbst 
und Verantwortung für die Beziehung.

© Marc Chagall
Beide können ehrlich mit einander umgehen, weil sie keine Angst haben und sagen, was sie wollen, was sie geben, was sie gerne empfangen möchten, worüber sie sich freuen und woran sie noch ar- beiten. Jeglicher Grund für Eifersucht entfällt, da die inneren Kinder zufrieden, geliebt und geachtet sind und jeder sich in sich selbst vollständig fühlt. Wenn man Kinder bekommt oder schon welche hat, stellt die beschriebene Reife der Erwachsenen die optimale Basis dar, auf der sie sich bestmöglich entwickeln können.

Liebe in der Partnerschaft braucht für ihre Beständigkeit die Bindung, und für ihre Kommu- nikation braucht sie Verständnis und Toleranz. Sie braucht als Basis, daß jeder für sich Ver- antwortung trägt. Für ihren Ausdruck braucht die Liebe Freiheit, jeder muß sich in der Bezie- hung frei entwickeln können. Die Bedingung der Liebe ist Mitgefühl, und in der Begegnung muß jedem sein eigener Wille zugestanden werden.

Was wir loslassen müssen in der Liebe ist das Festhalten, und was wir verstehen sollten ist, was der Andere uns sagen will. Das Ziel der Liebe ist, dem Anderen Geborgenheit zu geben, und die Freiheit der Liebe besteht darin, sich ganz und gar auszudrücken. Die Wirklichkeit der Liebe erfüllt sich darin, auf diese Weise den Himmel auf die Erde zu bringen.

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